Stephan J. Kramer:
„Antisemitismus in Deutschland – mehr als ein Phänomen des politischen Extremismus?“ 

Anschluss an die jährliche Mitgliederversammlung des Freundeskreises Zentrum Innere Führung e.V. am 14. Dezember 2023 war als Gastreferent Herr Stephan J. Kramer, Präsident des Amtes für Verfassungsschutz beim Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales eingeladen.

Nach seiner Begrüßung und einer kurzen Vorstellung des Referenten stellte der Vorsitzende des Freundeskreises, Brigadegeneral a.D. Bach, heraus, dass nach den Terrorattacken der Hamas die Anfeindungen gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie jüdische Einrichtungen dramatisch zugenommen haben. Juden fühlen sich zunehmend unsicherer in Deutschland.

Stephan Kramer gliederte seinen Vortrag in drei große Themenblöcke:

  • Klassischer Antisemitismus
  • Die Welt nach dem 7. Oktober 2023 und
  • Bedrohung für Juden und jüdisches Leben in Europa und weltweit

Nach der Vorstellung einer Internationalen Definition von Antisemitismus und der Erweiterung durch die Bundesregierung (siehe Bildleiste) stellte er die provokante These in den Raum:

„Es gibt Hass gegen Juden, nur weil sie Juden sind“.

Er erläuterte, wie man sprachliche Äußerungen auf Antisemitismus prüfen kann, nämlich mit dem sogenannten 3-D-Check:

  • Dämonisierung
  • Doppelstandard und
  • Delegitimierung

Dabei fallen Sätze wie „Juden haben Hörner“ oder „Jeder Jude ist verantwortlich für Israel“ besonders auf.

Kramer betonte, dass etwa die Kritik am Staat Israel in der jüdischen Welt viel härter und grundsätzlicher ist als in anderen politischen Kreisen, z.B. auch in Deutschland.
Mit der Karikatur „Gespräch in der Sauna“ (siehe Bildleiste) zeigte er auf, dass „Jüdischer Humor“ viel härter, bissiger und zuweilen treffender und etwas völlig anderes ist als platte und flache „Judenwitze“. Dennoch steigen die Fallzahlen von Übergriffen in Deutschland und dieser Anstieg wird vor allem durch das Internet und auch durch arabisch-sprachige Fernsehsender befeuert. In seinem Amt wurden früher alle Vorfälle nur nach „Rechts“ und „Links“ einsortiert, aber es gab kein Raster für antisemitische Vorfälle – sie wurden unter „N.N.“ oder „unbekannte Täter“ eingeordnet.

Mit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Lage radikal geändert. Es liegt nun nach Auffassung des Verfassungsschutzes für Deutschland eine „sehr hohe, abstrakt-radikale Gefahr“ vor, d.h. Anschläge – in welcher Form auch immer – sind höchst wahrscheinlich , wenn auch nicht zeit- und örtlich vorhersehbar.
Im Vordergrund stehen als Anschlagsziele zunächst Juden und jüdische Einrichtungen, wie die Kennzeichnung jüdischer Häuser in Berlin und anderswo in Deutschland zeigt. Aber wie der Vorgang um den Kölner Dom zu Weihnachten zeigt, ist die Gefahr nicht abstrakt. Und die Anleitungen zum Handeln finden sich in den sozialen Netzwerken: „Nehmt keine Feuerwaffe, die ihr euch erst beschaffen müsst, sondern ein großes Messer oder eine Machete und dann bringt Terror in ihre Orte.“

Der Antisemitismus aus der arabischen Welt ist heute ein Re-Import der Ideen der Nationalsozialisten. In der arabischen Welt und auch verstärkt im Gaza-Streifen kursieren tausende von Exemplaren von Hitlers „Mein Kampf“ auf Arabisch. Der Druck dieser Bücher wurde oft auch noch mit Hilfsgeldern der UN, der EU und auch mit Geldern aus Deutschland bezahlt. Dschihadisten hatten die Juden schon immer im Visier, wie die Anschläge in Brüssel, Berlin und Kopenhagen bestätigten.
Der Hass und mögliche Anschläge gegen Juden vollziehen sich nach der Meinung Kramers in Wellen, die etwa alle 10 Jahre wieder hochkommen. Dies hat seiner Meinung nach zu tun mit der Indoktrination und Ausbildung der nächsten Generation von neuen Rekruten für die Terroristen. Verstärkt wird das noch in den sozialen Netzwerken, für die nicht zuletzt russische Bots aus der Gegend von St. Petersburg verantwortlich sind, die mögliche Unruhe im Westen noch befeuern.

In der Diskussion nach seinem Vortrag beantwortete er ein weites Feld von Fragen zu innen- und außenpolitischen Problemen, die von den Gästen aufgeworfen wurden.

Wie verhalten sich die extremen Flügel in Deutschland in Fragen des Antisemitismus?

Links herrscht die Meinung vor, dass Israel der Flugzeugträger der USA im Nahen Osten sei.
Rechts wird gesagt, wenn alle Muslime zur Unterstützung der HAMAS beim Kampf gegen Israel aus Deutschland verschwunden seien, dann wären wir sie los und das sei nur gut für uns.Die AfD hat aus der Sicht des Verfassungsschutzes Thüringen einen klaren Bezug zu Moskau und dessen Unterstützung der HAMAS. Björn Höcke ergreift klar Partei gegen die Ukraine und gegen Israel (= ein Vasall der USA). Diese Äußerungen fallen im Osten immer noch auf fruchtbaren Boden.
Kramer begründete das Vorgehen des Verfassungsschutzes Thüringen gegen die AfD über den Prüf-Fall zum Verdachtsfall. Er zitierte dabei Heiner Geißler, der einmal sagte, dass etwa 20% der AfD – Wähler brauner Bodensatz seien, aber alle anderen durch die demokratischen Parteien wieder zurückgewonnen werden könnten.

Auf die Frage „Alle arabischstämmigen Menschen sind doch Semiten?“ antwortete Kramer: Der Begriff Antisemitismus ist im aktuellen Zusammenhang falsch, „Judenfeindlichkeit“ ist der richtige Begriff.

Er ging auch auf die Frage ein, ob sich die Extremisten von Rechts und Links nicht irgendwann im Kreis wiedertreffen würden? Seiner Meinung nach müssen wir uns einen neuen Begriff von Extremismus zulegen, denn die alten Kästchen von Rechts und Links erfassen die Problembereiche nicht oder nur unzureichend. Dies war schon bei der Diskussion um Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu Coronazeiten zu erkennen, als die „Spaziergänger“ außerhalb des alten Systems waren.

Auf seine Wünsche für die Zukunft angesprochen, wünschte er sich volle Aufklärung für den Verfassungsschutz Thüringen, mehr Vertrauen in die Demokratie und Abbau von Arbeitserschwernissen für sein Amt durch manche Gerichte.

Zur Frage der „Klimabewegung und der Letzten Generation“ nahm er wie folgt Stellung:

Neben der Bewegung „Fridays for Future“ gibt es viele idealistische Strömungen, die politisch etwas bewegen wollen. Aber die Schwelle von kleineren Vergehen über Sachbeschädigung bis hin zu Straftaten, wie sie von der „Letzten Generation“ begangen werden, ist gering. Dann wächst die Gefahr des Abdriftens in den Extremismus. Seinen Erkenntnissen nach sind als nächste Maßnahmen Sabotageakte gegen die Kritische Infrastruktur geplant: Thema der neuen Kampagne: „Switch off !!!
Neu ist auch, dass sich perspektivlose Menschen gerade im Osten bei Security-Unternehmen ausbilden lassen, um das notwendige Know-how für Anschläge zu erwerben, weil sie bei der Bundeswehr nicht landen können. Diese Klientel stellt eine latente Gefahr dar, die in den nächsten Jahren explodieren könnte.
Er schilderte als Extremfall aus dieser Gruppe die Aussage einer Frau vor Gericht, sie habe sich sterilisieren lasen, weil sie keine Perspektive mehr für sich und mögliche Kinder in der Zukunft sehe.

Zu weiteren Fragen nach der Q-Anon-Bewegung und den Reichsbürgern um Prinz Reuß und sonstigen Verschwörungstheoretikern führte Kramer aus, dass diese Bewegungen sich anfangs überhaupt nicht riechen konnten, schließlich aber doch durch den gemeinsamen Feind „Bundesrepublik Deutschland“ zusammenfanden. Die Rechten machen nach 60 Jahren linker Ideologie mit den Linken jetzt gemeinsame Sache. Kramer nennt sie „Mosaikrechte“. Beiden Gruppierungen ist aber gemeinsam:

Wladimir Putin ist der Gralshüter der Eurasischen Rasse!!!

  • Stephan Kramer schloss die Diskussion mit zwei persönlichen Anmerkungen:
    Freunde haben ihn gewarnt, er solle diesen Posten nicht zu lange machen, damit er nicht selbst paranoid und „Gaga“ werde.
  • Aus seiner Sicht müssen in Deutschland für ein gedeihliches Miteinander drei Dinge funktionieren: Bildung – Sicherheit – Gesundheit.

Wir erlebten einen Vortrag mit Aussprache, der eine Vielzahl von Themen mit tiefem Ernst, über den Witz, über jüdischen Humor und Sarkasmus bis fast zum Zynismus ansprach und von einem mitreißenden Referenten geprägt war.

Stephan Joachim Kramer (* 1968 in Siegen) ist ein deutscher politischer Beamter.
Er wuchs im Siegerland auf und besuchte die Realschule am Häusling sowie später das Evangelische Gymnasium Siegen-Weidenau, wo er das Abitur ablegte.
Als Schüler trat er der Jungen Union und später der CDU bei. Seinen Wehrdienst absolvierte er bei der Bundesmarine und wurde dort Oberleutnant zur See. Anschließend nahm er ein Studium der Rechtswissenschaften auf. Anfang der 1990er Jahre arbeitete er als Büroleiter für die CDU-Bundestags-Abgeordneten Hans Stercken und Friedhelm Ost, später wechselte er zum FDP-Abgeordneten Norbert Eimer und war in dieser Zeit auch selbst Mitglied der FDP.

Nach einer Informationswehrübung im Jahr 2009 und entsprechender Bewerbung bei der Bundeswehr wurde Kramer zum Korvettenkapitän der Reserve ernannt. Er ist an der Marineschule Mürwik auch als Truppenfachlehrer Politik tätig. Seit 2010 ist er Mitglied der SPD. Während seiner Zeit als Generalsekretär des Zentralrats der Juden nahm Kramer an der Fachhochschule Erfurt ein Studium der Sozialpädagogik auf, das er 2011 mit einem Bachelor und 2015 mit einem Master abschloss.

Generalsekretär des Zentralrats der Juden
Ab 1995 arbeitete Kramer für die Jewish Claims Conference und war dort zunächst Assistent des Europa-Direktors. Seit 1998 war er beim Zentralrat der Juden in Deutschland tätig, anfangs als persönlicher Referent von Ignatz Bubis, dann als Geschäftsführer. Erst zu dieser Zeit trat Kramer selbst zum Judentum über. Im April 2004 wurde er Generalsekretär beim Zentralrat der Juden in Deutschland. Kramer war u.a. ständiger Gast im 12. Beirat für Fragen der Inneren Führung der Bundeswehr beim Bundesministerium der Verteidigung. Zum 31. Januar 2014 schied Kramer auf Grund inhaltlicher Differenzen innerhalb des Zentralratspräsidiums z. B. hinsichtlich des NPD-Verbotsverfahren aus dem Amt des Generalsekretärs aus.

Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes
Am 19. November 2015 wurde Kramer vom damaligen Innenminister Holger Poppenhäger (SPD) als neuer Präsident des Amtes für Verfassungsschutz in Thüringen vorgestellt. Das Amt des Präsidenten war zuvor seit Juli 2012 vakant gewesen, da der bisherige Inhaber nach dem Bekanntwerden des Behördenskandals um die rechtsextreme Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zurückgetreten war. Die taz sprach von Kramers „überraschender“ Berufung als dem größtmöglichen Bruch mit der Behördentradition und nannte Kramer einen „maximalen Reformer“. Im März 2016 kündigte Kramer an, seine Behörde werde den Einsatz von V-Leuten als Ultima Ratio wieder einführen, weil anders nicht an wesentliche Informationen zu gelangen sei.

Die AfD Thüringen strengte im Jahr 2019 wegen der durch das Thüringer Amt für Verfassungsschutz öffentlich verkündeten Einstufung der Partei als Prüf-Fall ein Organstreitverfahren vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof an. Der Antrag wurde aus formellen Gründen abgewiesen, da sich ein Organstreitverfahren nur gegen Verfassungsorgane oder gleichwertige Institutionen richten kann, wozu das Landesamt für Verfassungsschutz laut Gericht nicht gehöre. Inhaltlich wurde die Klage der AfD nicht geprüft.

Im April 2020 war Kramer für den Wahlkreis 192 (Ilm-Kreis, Landkreis Gotha) als Direktkandidat der SPD bei der Bundestagswahl 2021 aufgestellt worden, zog die Kandidatur aber zurück. Durch den Verzicht auf die Kandidatur wollte Kramer auch das Landesamt für Verfassungsschutz und dessen Bedienstete davor schützen, „weiter zur unbegründeten Zielscheibe von Gegnern unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu werden“.

 

Ein Bericht von Oberstleutnant a.D. August Bauer