Das internationale Engagement in Afghanistan 2001 bis 2021 unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Beitrags

Was wurde erreicht?        Was wurde verspielt?      Wie geht es weiter?

 

Unter diesen Fragestellungen beleuchtete das Mitglied des Freundeskreises, Oberstleutnant a.D. Thomas Löbbering, den Einsatz aus militärischer und politischer Sicht und bewertete die Ergebnisse für Afghanistan wie auch die Rückwirkungen auf die deutsche Politik.

Er war zwischen 2001 und 2012 fast 11 Jahre dienstlich mit Afghanistan befasst und lebte 7 Jahre im Land. Dabei bekleidete er Verwendungen wie Sprecher ISAF Kabul Multinational Brigade, Sprecher Com ISAF, Chief Media Operations Afghanistan im NATO-Hauptquartier sowie militärpolitischer Beratungsoffizier und Verteidigungs-attaché an der deutschen Botschaft in Kabul. Seine Ausführungen gingen weit über den militärischen Horizont hinaus, ordneten das deutsche militärische und zivile Engagement in den internationalen Kontext ein und berücksichtigten auch die aktuelle politische Aufarbeitung in Deutschland.

Sein komplettes Briefing (einschließlich seiner Notizen) steht im Mitgliederbereich zur Verfügung.

Zu Beginn seiner Ausführungen wies er darauf hin, dass die Betrachtung des zivilen und militärischen Engagements eine Momentaufnahme und noch kein endgültiges Fazit sei. Es sei eher der Versuch einer vorläufigen Bilanz. Die Verengung auf NATO und Bundeswehr wäre fatal, denn vor allem der politische Anteil überwog bei weitem. Insgesamt waren 85 Nationen beteiligt, davon 50 mit militärischem Anteil. Zeitweise waren auf ziviler Seite bis zu 1.700 Nichtregierungsorganisationen (NGO’s) im Land vertreten, mit einer Heterogenität, die für niemanden händelbar war, schon gar nicht für die staatlichen Stellen in Afghanistan. Es gab keine Steuerung der Einsätze und der Geldmittel. So manche Hilfsorganisation verbrauchte mehr Geld für sich selbst als für die hilfsbedürftige Bevölkerung.

Der Ursprung des Einsatzes war eigentlich eine militärische Operation, nämlich als „Enduring Freedom“ der Kampf gegen den Terrorismus, gegen die Taliban, gegen Al-Kaida und Osama Bin Laden. Mit der Zerschlagung der Taliban und dem Ausweichen von Al-Kaida 2002 nach Pakistan war dieser Auftrag im Jahre 2007 eigentlich erfüllt. Später bildete der Tod von Osama Bin Laden 2011 eine weitere Zäsur und einen Abschluss. Doch die Staatengemeinschaft setzte sich weitere Ziele wie die militärische Befriedung des ganzen Landes sowie den Aufbau ziviler und demokratischer Strukturen (ISAF = International Assistance Security Force). Aber es gab keine Definition eines Endziels und die Interessen der einzelnen Staaten lagen unendlich weit auseinander.

Selbst innerhalb der deutschen Akteure wie dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), dem Auswärtigen Amt (AA), dem Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) oder dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gab es unterschiedliche Ansätze, die einem gemeinsamen Wirken keinesfalls zuträglich waren. Thomas Löbbering ging zunächst auf die Grundversorgung und Wirtschaft von 2002 über 2017 bis 2021 ein. Er erläuterte an einigen Beispielen die Entwicklung und den Ist-Zustand. Stromversorgung und Zugang zu sauberem Trinkwasser waren in diesen Jahren deutlich gestiegen und liegen nun brach. Nach dem Abzug Deutschlands wurde z.B. die Abwasserentsorgung von Kabul mit ca. 4 Millionen Einwohnern nicht mehr fertiggestellt. Die Schulbildung war von 1 Million auf 8 Millionen Kinder (davon 35% weiblich) gestiegen. Aber die Kooperation der Universität Kabul auch für die Lehrerausbildung mit der Ruhr-Uni und den Universitäten Bonn und Köln gibt es nicht mehr. Die Ring Road rund um Afghanistan wurde nicht mehr fertiggestellt und ist an vielen Stellen gesprengt oder zerbombt. Die Säuglingssterblichkeit, die während der Zeit der internationalen Hilfen von 250 Todesfällen auf 1.000 Geburten auf 160 gesunken war, steigt wieder exponentiell an.

 In den Bereichen Staat und Gesellschaft 2002 – 2017 – 2021 sind die Wahlen eines Präsidenten 2004/09/14 ebenso Vergangenheit wie die Kommunalwahlen, die erstmals 2014 abgehalten wurden. Es gibt kein Gewaltmonopol mehr, sondern nur noch Einflussbereiche der Taliban, des IS und zahlreicher Warlords mit ethischer Fraktionierung, Korruption und Drogenanbau. Als Beispiel für Korruption führte der Referent die beiden Brüder des ehemaligen Präsidenten Hamid Karsai an, von denen der eine durch Drogenhandel inzwischen über ein geschätztes Vermögen von 980 Millionen Dollar in den Vereinigten Arabischen Emiraten verfügt, während der andere als ehemaliger Bauminister der größte Bauunternehmer des Landes ist und sich durch Landschenkungen zu seinen Gunsten zu einem der größten Landbesitzer Afghanistans gemacht hat. Freie Berichterstattung in Presse, Rundfunk oder Fernsehen gibt es ebenfalls nicht mehr, höchstens noch in Teilen des Internets.

 Die Schwerpunkte deutscher ziviler Hilfe für Afghanistan wurden koordiniert durch AA, BMI und die Wirtschaft. Hier handelte es sich zumeist um kurzfristigere Projekte wie Verkehrsinfrastruktur, Wasserversorgung Kabul, Hochschulbildung, Kultur und zivil organisierte Polizei. Daneben gab es mittel- und langfristige Projekte durch BMZ, Bundesministerium der Justiz (BMJ) und andere Akteure wie den Aufbau einer Zivilgesellschaft, Frauenrechte, Bildung für alle, landesweite Stromversorgung usw.! Die internationale Aufbauhilfe für Afghanistan bewegte sich im Bereich von 12 Mrd. Dollar, das waren im Durchschnitt 85% des afghanischen Haushalts. Seit 2020 ist diese Summe einer Nothilfe der UN gewichen. Es gibt keine Struktur mehr im Land. Einige wenige zivile Organisationen sind noch in Afghanistan, vor allem noch in den paschtunischen Gebieten. Auch die „Kinderhilfe Afghanistan“ von Oberstarzt a.D. Dr. Erös kann noch weiterarbeiten, weil er mit den dortigen Stammesführern zusammenarbeitet.

Ein weiteres Feld war der Aufbau und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte durch Deutschland. Die Ausbildung der Polizei war Deutschland zugeteilt worden und wurde in verschiedenen Laufbahnen durchgeführt: 2 Jahre für Polizeiunteroffizieren und 4 Jahre für Polizeioffiziere. Gegen Ende einer Ausbildung wurde in Kabul ein Bus mit 54 frisch ausgebildeten Polizeioffizieren in die Luft gesprengt und alle 54 getötet. Ab 2008/2009 übernahmen die USA die Ausbildung und stellten um auf kampffähige Polizei nach dem US-System. Diese Maßnahme wurde 2021 eingestellt, aber seit dieser Zeit verfügen die Warlords über etwa 30.000 bestens ausgebildete und ausgerüstete Kämpfer.

Der Kampf um die Macht fand in Wellen statt. Thomas Löbbering erläuterte die Herrschaft der Taliban über die Masse der einzelnen Provinzen im Jahr 2000 vor dem 11. September 2001 bis zum Verlust vieler Provinzen 2002 nach der US-Invasion. Danach kamen die Taliban während des Engagements der Amerikaner im Irak wieder zurück bis zum erneuten Aufstocken der US-Truppen ab 2008. Nach dem Jahre 2012 wurden viele Provinzen nur im harten Kampf gegen die Taliban gehalten. Das ganze Land fiel nach dem Abzug der ausländischen Kräfte im Sommer 2021 innerhalb weniger Wochen nahezu kampflos in die Hände der Taliban. Die US-Regierung beziffert die Kosten des Krieges auf fast eine Billion Dollar. Das Projekt „Costs of War“, das unter anderem auch die Kosten für Veteranen mit einbezieht, schätzt die Kosten doppelt so hoch ein.

Dem Krieg fielen in den letzten sieben Jahren über 3.000 Zivilisten zum Opfer. Im Jahr 2020 waren 43% der Todesopfer Frauen und Kinder. Zuletzt wurden täglich 30 bis 40 Angehörige der afghanischen Streitkräfte getötet. Seit Kriegsbeginn starben geschätzt mehr als 50.000 Angehörige der Taliban und anderer Gruppen. Auch die Bundesrepublik Deutschland hatte 59 Gefallene zu beklagen. Schätzungen zufolge gibt es etwa 3,4 Mio. Geflüchtete innerhalb Afghanistans und ca. 3,2 Mio. sind außer Landes geflüchtet. Der Referent zeigte die verschiedenen Fluchtbewegungen und Fluchtrouten auf. Dabei sprach er von derzeit 350.000 afghanischen Flüchtlingen in Deutschland, von den inzwischen etwa 180.000 (von 1979 bis heute) schon deutsche Staatsbürger sind. Von der internationalen Koalition seien im Zuge der Evakuierungsoperation im August 2021 rund 120.000 Personen aus Afghanistan ausgeflogen worden, weitere 130.000 (Stand Juni 2022) konnten anschließend meistens über Pakistan ausreisen.

In einer zusammenfassenden Beurteilung zitierte der Referent Prof. Dr. Carlo Masala von der UniBw München: „Der Afghanistaneinsatz war militärisch erfolgreich, weil er sein Ziel, die Zerschlagung von Al Quaida Strukturen in Afghanistan, erreicht hat. Er ist politisch mit dem Ziel, Afghanistan zu demokratisieren, gescheitert.“ Und weiter sagte Masala: „Die Bundeswehr hat nur das ausgeführt, was sie an politischen Aufträgen erhalten hat. Deswegen muss die Frage lauten: Hat sie die richtigen Aufträge erhalten, um das politische Ziel zu erreichen? Wenn nein, dann ist es die Schuld der Politik, nicht der Bundeswehr als Instrument der Politik.“

„The enemy was us.“ – Mit diesem Satz schließt der Evaluationsbericht der NATO über den mehr als 20-jährigen Einsatz. Aus Sicht von Thomas Löbbering hat dieser Einsatz die Bundeswehr als Armee erwachsen werden lassen. Von der Vielzahl der Erfahrungen hebt er besonders hervor:

  • Professionalisierung der Bundeswehr im Einsatz (Inkulturation, Logistik, Technik)
  • Vertrauensverlust in die Politik wegen Deltas zwischen Einsatz und Kommunikation auf politischer Ebene („Krieg“, Wirklichkeitsverweigerung, Nichtwahrnehmung)
  • Notwendigkeit eines glaubhaften Narrativs
  • Offener Umgang mit Verwundung und Tod, Beauftragte/-r für Einsatzgeschädigte, Einsatzgesetzgebung
  • Permanente Evaluation (begleitend und nach dem Einsatz)
  • Weiterentwicklung „Vernetzter Ansatz“

Im Anschluss erläuterte der Referent Personelle und organisatorische Maßnahmen des AA – wie einen deutschen Botschafter für Afghanistan, die Rolle des Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, den UN-Sondergesandten für Afghanistan und weitere diplomatische und politische Vertretung in Afghanistan – um den Menschen in Afghanistan zu helfen wie auch die versprochenen Ausreisen von Ortskräften und deren Familien zu ermöglichen.

Sein Referat beschloss Thomas Löbbering mit organisatorischen Maßnahmen von Bundesregierung / AA / BMI / BMZ wie dem Bundesaufnahmeprogramm mit dem rechtlichen Rahmen nach § 22 Aufenthaltsgesetz für Ortskräfte und Asylbewerber. Zu den derzeit laufenden politischen Maßnahmen der Bundesregierung und des Bundestages gehören der Untersuchungsausschuss des Bundestages zu „den Geschehnissen des Abzuges der Bundeswehr und der Evakuierung“ sowie die Enquetekommission zu „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“, die beide seit 08.07.2022 ihre Arbeit aufgenommen haben.

 Letztlich empfiehlt der Referent zum besseren Verständnis drei Bücher als Lektüre:

Ahmed Rashid
Taliban – Die Macht der afghanischen Gotteskrieger

Wolfgang Bauer
Am Ende der Straße – Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern

Marcel Mettelsiefen, Christoph Reuter
Kunduz, 4. September 2009 – Eine Spurensuche

 

Ein Bericht von Oberstleutnant a.D. August Bauer